Braucht es heute noch Leitbilder in der Führung?
Die Entwicklung eines Führungsleitbildes bietet für Organisationen die Möglichkeit, sich mit eigenen Werten auseinanderzusetzen: kurz gefasst mit der Organisationskultur, die sich auch in der Führungskultur widerspiegelt. Leitbilder können nach innen und außen positive Wirkung entfalten. Dabei sollten Stolpersteine beachtet werden.
Über Sinn oder Unsinn eines Leitbildes lässt sich trefflich streiten. Dass diese Sinnhaftigkeit infrage gestellt werden kann, liegt auch an vielfältigen Erfahrungen aus der Praxis.
So haben zum Beispiel viele Organisationen ein Leitbild entwickelt. Aber die Mehrheit der dort tätigen Mitarbeitenden dürfte diese Leitbilder nicht sicher wiedergeben können.
Des Weiteren wird die Mehrheit der Führungskräfte die in einem Führungsleitbild festgehaltenen Werte als erstrebenswert anerkennen; die Umsetzung im beruflichen Alltag könnte aber merklich davon abweichen.
Doch wird in diesen Widersprüchlichkeiten nicht das Führungsleitbild an sich infrage gestellt; noch weniger eine zugrunde liegende werteorientierte Führungskultur. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die Gestaltung und Verankerung von Führungsleitbildern in den Organisationen verbessert werden können. Dafür müssen die oben genannten Stolpersteine beziehungsweise Vorbehalte innerhalb von Organisationen beachtet werden. Erst dann können Leitbilder auch wirksam werden. Denn als wissenschaftlich gesichert gilt, dass Führung die Zufriedenheit, Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten positiv wie negativ signifikant beeinflussen kann.[1][2] Ein gemeinsames Verständnis von guter Führung im Unternehmen sollte daher erarbeitet und festgehalten werden. Im Folgenden stehen Leitbilder der Führung im Fokus. Darin werden zentrale Vorstellungen festgehalten, wie Führung im Unternehmen aussehen sollte. Häufig sind solche Führungsleitbilder Bestandteil eines Unternehmensleitbildes oder beziehen sich zumindest darauf. Wenn für den Sinn von Führungsleitbildern und für eine werteorientierte Führungskultur argumentiert wird, dann weil ein Leitbild nach innen und außen positive Wirkung zeigen kann[3][4].
Nach innen (bezogen auf Führungskräfte und Mitarbeitende) wären dies:
- Orientierung in Handlungs- und Entscheidungssituationen
- Selbstklärung beziehungsweise Reflexion der Führungskultur, also der organisationsspezifischen Grundannahmen und Werte
- Motivation zur Weiterentwicklung
Nach außen unterstützt ein (Führungs-) Leitbild die Positionierung und Erkennbarkeit in der Öffentlichkeitsarbeit und im (Personal-)Marketing. Es ist ein erkennbarer Teil des Images einer Organisation.
Leitbilder bieten Orientierung
Ein Leitbild bietet eine Orientierung dafür, was von der Organisation angestrebt wird und wie das erreicht werden kann. Es versucht, „den Führungskräften in der besonderen Situation ihrer Verantwortung Orientierung zu geben“[5].
Die besondere Situation einer Führungskraft kann auf Makro- und Mikroebene betrachtet werden. Auf Makroebene wird gern das Akronym der VUCA-Welt herangezogen.
VUCA-Welt steht dafür, dass
- sich entscheidende Rahmenbedingungen dynamisch und unerwartet ändern (Volatility),
- Umfang, Dauer und Fortentwicklung einer gegebenen Situation nicht sicher vorhergesagt werden können (Uncertainty),
- Konsequenzen von Handlungen aufgrund der Wechselwirkungen von Akteurinnen und Akteuren sowie deren Handlungen nicht sicher vorhergesagt werden können (Complexity),
- es Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten (Ambiguity) gibt.[6]
Auf Mikroebene ist eine Führungskraft regelmäßig mit „klassischen“ Dilemma-Situationen konfrontiert. Diese zeigen sich beispielsweise in der grundsätzlichen, teilweise nicht lösbaren Gegenüberstellung von Human- versus Erfolgs- und Ergebnisverantwortung oder auch von Fremdbestimmung (enge Kontrolle) versus Selbstbestimmung (Autonomie).[7]
Schematische Handlungsleitfäden können in solchen ambivalenten, mehrdeutigen Situationen nicht weiterhelfen. Leitbilder dagegen können Orientierung geben und Entscheidungen begründen.
In diesem Zusammenhang könnte der Vorbehalt geäußert werden, dass Leitbilder zu vage und unkonkret formuliert seien. Tatsächlich lassen sich dort häufig Werte wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Wertschätzung finden. Das liegt teilweise „in der Natur“ eines Leitbildes begründet; denn es muss allgemein genug gehalten sein, um konsens- und anschlussfähig zu sein; es sollte aber konkret und spezifisch genug sein, um handlungsleitend sein zu können.
Eine These hierzu ist, dass diese Werte erst konkret und handlungsleitend werden können, wenn sie auf die ganz eigene Arbeitssituation und „vor Ort“ sowie in Interaktion mit den Mitarbeitenden bezogen, angewandt und reflektiert werden. Ein Leitbild ist „kein Ersatz für eigenes Denken [und] auch keine Checkliste, anhand derer Sie gewünschtes Verhalten abhaken können“[8].
In Konsequenz bedeutet dies, dass Leitbilder eine kontinuierliche Praxisreflexion und Transferarbeit benötigen. Diese müssen einerseits eigenständig durch die Führungskräfte erarbeitet werden. Andererseits muss eine Organisation dieses persönliche Auseinandersetzen auch unterstützen und begleiten. Weiterführend können beispielsweise Coachings, Themenworkshops oder Austauschformate wie die kollegiale Fallberatung sein.
Kulturarbeit, Reflexion und Partizipation
Nach Kühl sind „Leitbilder erst einmal nichts anderes als nach außen und innen verkündete Wertekataloge“[9]. Doch wie kann solch ein Wertekatalog spezifisch für eine einzelne Organisation sein?
Ein Katalog, also ein Sammelsurium an angebotenen Werten, die mehr oder weniger willkürlich zusammengestellt werden, kann nur schwerlich das Identifikationspotenzial ermöglichen, das organisationsspezifische Werte und das Festhalten von Besonderheiten bieten.
Wird ein Führungsleitbild angestrebt, sollten daher nicht einfach Blaupausen aus anderen Unternehmen genutzt werden, sondern eine gezielte Analyse des Ist-Stands und der gewünschten Richtung erfolgen, in die sich Führung im Unternehmen entwickeln soll.
Um zentrale Werte und Normen einer Organisation zu identifizieren, muss die Kultur der Organisation in den Blick genommen werden. Das Kulturebenen-Modell nach Edgar H. Schein[10] macht gut sichtbar, dass die Beschäftigung mit Werten ein Eintauchen in die Kultur der Unternehmung bedeutet (siehe Abbildung 1). In diesem Modell sind Werte und Normen zentral und bilden die mittlere Ebene. Auf oberer Ebene findet man Artefakte und sichtbare Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder. Auf der untersten Ebene finden sich die Grundannahmen zur Natur des Menschen, darüber, wie Menschen miteinander in Beziehung gehen und im Austausch mit der Umwelt stehen sollten.
Zu Beginn ist es daher wichtig, sich einen genauen Überblick darüber zu erarbeiten, welche anderen Vereinbarungen und werteorientierte Aussagen bereits im Unternehmen existieren (Compliance, Unternehmensleitbild, Code of Conduct et cetera) und als Artefakte im Unternehmen kommuniziert werden.
Wenn es um kollektive Werte und ein geteiltes Gefühl von „richtigem Handeln“ geht, dann braucht es hierzu sowohl eine individuelle Reflexion von Werten als auch einen verständnisorientierten Austausch der Organisationsmitglieder untereinander. Die Partizipation, also die Einbindung insbesondere derjenigen Personen, die in Führungsverantwortung sind und die Führungskultur maßgeblich gestalten, spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Dabei muss geklärt werden, wer im Prozess beteiligt werden soll. Je mehr Personen vertreten sind, desto differenzierter und diverser können die Ideen und Impulse werden, die in das Leitbild einfließen können. Andererseits steigen mit der zunehmenden Zahl an Beteiligten die Herausforderungen im Abstimmungsprozess. In jedem Fall sollten die einzelnen Führungsebenen und auch Vertreterinnen oder Vertreter der Beschäftigten beteiligt werden.
Aber die Arbeit mit Werten ist keine reine Innenschau. Sie ist auch eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Hierzu gehören die Reflexion und Beachtung gesellschaftlicher Werte beziehungsweise eines Wertewandels in der Gesellschaft[11] und speziell in der Arbeitswelt[12]. Die Auseinandersetzung mit der Frage „Wofür wollen wir stehen?“ bietet einer Organisation die Möglichkeit, sich zu aktuellen Themen zu positionieren und diese aufzugreifen (beispielsweise Nachhaltigkeit, Diversität, Inklusion).
Auch aktuelle Trends der Führungsforschung bieten evidenzbasierte Diskussionsgrundlagen zur Gestaltung einer werteorientierten Führungskultur. Aktuelle Trends sind dabei beispielsweise: die ethischen Dimensionen von Führung – Respectful, Authentic oder Servant Leadership –; die „Dunkle Seite“ der Führung („Dunkle Triade“) sowie das Thema „Gesundheit“[13]. Wenn es um die kontinuierliche Reflexion und die systemisch notwendige Anpassung der Organisation an ihre Umwelt geht, kann ein Leitbild daher auch kein abgeschlossenes, starres Pamphlet sein, sondern bedarf einer kontinuierlichen Überarbeitung und Erneuerung mit Partizipationsmöglichkeiten für Führungskräfte und Mitarbeitende.
Teil eines Veränderungsprozesses
Die Arbeit an Führungsleitbildern und damit an Elementen der Führungskultur zielt mit den definierten Werten auf Erstrebens- und Wünschenswertes ab. Leitbilder und Werte dienen als Ideal, „das heißt sie gelten als regulative Ideen, sind also Bezugspunkte, die den Abstand vom Soll zum Ist erkennen lassen“[14]. Sie sollten daher als ein wichtiger Hinweis und Lernimpuls verstanden werden, der die Möglichkeit zum Lernen und zur Weiterentwicklung aufzeigt.
Diese Weiterentwicklung ist zum einen ein individueller Prozess. Zum anderen sollte die Arbeit an der Führungskultur und speziell an einem Führungsleitbild auch als kulturbezogener Veränderungsprozess der Organisation verstanden werden.
Erfolgreiche Veränderungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von den Organisationsmitgliedern akzeptiert werden und im beruflichen Alltag integriert bzw. „verankert“ sind.[15]
Dies betonen auch Blessin und Wick, wenn sie pointiert formulieren: „Nicht das Ergebnis „Leitsätze“ ist wichtig, sondern das Verfahren ihrer Erzeugung, Vermittlung und Umsetzung in die Praxis [Formatierung im Original].“[16]
Bei der Umsetzung entscheidet sich, ob das Leitbild ein Stück Papier bleibt oder gelebte Realität wird. Für eine konsequente Umsetzung ist es nötig, immer wieder den Grad der Umsetzung zu diskutieren. Führungskräfte sollten sich hier auch selbst reflektieren und sich Rückmeldung bei den Beschäftigten holen. Hier sollten auch Bedenken und Widerstände, die zu jedem Veränderungsprozess dazugehören[17], aufgenommen und bearbeitet werden.
Insbesondere im Bereich des Personalmanagements, speziell der Personalentwicklung, bieten sich wichtige Ansätze zur Verankerung und Weiterentwicklung an. Beispiele sind:
- Personalrekrutierung mit entsprechenden Anforderungsprofilen und einer erkennbaren Positionierung als Arbeitgebermarke
- Onboarding-Prozesse mit dem Schwerpunkt der beruflichen Sozialisation
- Kompetenzmodelle der Führung und damit einhergehende Beurteilungs- und Beförderungsverfahren
- kontinuierliche Begleitung durch geeignete Führungskräfte- und Personalentwicklungsmaßnahmen wie beispielsweise Coaching
Fazit
In diesem Artikel wurde die Bedeutung der Arbeit an einer Führungskultur und – damit einhergehend – der Entwicklung und Umsetzung eines Führungsleitbildes hervorgehoben. Insbesondere für die erfolgreiche Verankerung des Leitbildes in der Organisation müssen Vorbehalte und Stolpersteine in der Umsetzung berücksichtigt werden.
Wird ein Führungsleitbild angestrebt, müssen eigene Werte und organisationale Besonderheiten beachtet und identifiziert werden. Dies bedeutet ein „Eintauchen“ in die eigene Unternehmenskultur. Dabei spielt die Partizipation, also die Einbindung insbesondere der Personen, die in Führungsverantwortung sind und die Führungskultur maßgeblich gestalten, die entscheidende Rolle.
Wenn Werte identifiziert wurden, werden diese häufig abstrakt und allgemein im Leitbild formuliert. Um diese konkret und handlungsleitend werden zu lassen, braucht es eine persönliche Auseinandersetzung mit und gegebenenfalls das Reiben an Werten in der eigenen besonderen Situation der Verantwortung als Führungskraft. Es braucht eine kontinuierliche Praxisreflexion und Transferarbeit, die von der jeweiligen Organisation unterstützt und begleitet werden sollte.
Ein Leitbild muss gepflegt werden. Es bedarf einer regelmäßigen Überarbeitung und Erneuerung mit Partizipationsmöglichkeiten für Führungskräfte und Mitarbeitende.
Das Durchdringen der Organisation ist essenziell. Insbesondere im Bereich des Personalmanagements, speziell der Personalentwicklung, bieten sich hierfür wichtige Ansätze.